Wir Sind Helden Heldenzeit [20.06.03] Elektro Gitarre Pop Mai war für mich schon immer der schönste Monat des Jahres - und auch der traurigste. Unbewusst bin ich im Mai immer auf der Suche nach dem Glück gewesen, denn der Mai verspricht so viel davon. Er verspricht überhaupt so viele Wunder - mit seinem blassen, hellen Licht, das einem zart in die Glieder fährt und geheime Wunschkammern öffnet. Wenn der Frühling beginnt, nach Apfelshampoo aus der Kindheit zu duften, fange ich jedes Mal an, mich darüber aufzuregen, dass Glück kein Normalzustand sein kann. Als Kind habe ich deshalb schon manchmal auf die bösen Wolken am Himmel gezielt, aber sie kamen immer wieder, immer dichter. Weil der Mai so ein Schicksalsmonat für mich ist, habe ich dieses Jahr ein kleines Experiment gestartet. Ich versuchte, rund um die Uhr glücklich zu sein und mich für nichts als Glück, das pure Glück, einzusetzen. Versucht es mal - es ist schwieriger, als ihr denkt. Mitte des Monats kam künstlerische Unterstützung von außen. Ich kann es nicht anders sagen, aber "Die Reklamation", das Debüt-Album von Wir Sind Helden, hat mich ganz traurig gemacht vor Glück. Dabei haben sie den zwölf großartigen Kompositionen schon einiges an musikalischem Wetterleuchten vorausgeschickt. Als die Tage noch dunkel waren, und die Nächte voller bescheuerter Werbespots und falscher Grimassen, schickten sie ein Lied hinaus in die Welt, das seliger und optimistischer war als all die anderen verheuchelten Glücksbotschaften. Die Sängerin sang wie eine Berliner Göre, die sich fein gemacht hatte, und das Liedchen hüpfte im flotten Synthie-Pop vor sich hin und wurde trotzdem immer unerbittlicher. Spätestens bei der blitzenden Bridge fing man an, mal auf den Text zu achten: "Es war im Ausverkauf, im Angebot, die Sonderaktion. 'Tausche blödes altes Leben gegen neue Version.' Ich hatte es kaum zu Hause ausprobiert, da wusste ich schon. An dem Produkt ist was kaputt - das ist die Reklamation." Der Refrain kam als süßes Grollen: "Ich kauf nichts mehr, ich will mein Leben zurück", verkündete die Helden-Sängerin. Und als man das Lied zu Ende gehört hatte, mit all seinen Aufzählungen kaputter Produkte, fing man an, sich ernsthaft zu überlegen, ob es vielleicht gar nicht nur die einzelnen Produkte sind, sondern das gesamte Produkt-System, das kaputt ist. Aus der Sicht von Judith Holofernes schien es jedenfalls ganz einfach, sich mit dem Kapitalismus zu duellieren: "Meine Stimme gegen ein Mobiltelefon. Meine Fäuste gegen eure Nagelpflegelotion. Meine Zähne gegen die von Dr. Best und seinem Sohn. Meine Seele gegen eure sanfte Epilation." Volltreffer Wow. Volltreffer. "Guten Tag" war DER Überraschungshit dieses Frühjahrs und der Beweis dafür, dass man sogar in Zeiten der Krise ohne Plattenvertrag und aufwändiges Video in die Charts kommen kann. Wie hatte doch Naomi Wolf in "Mythos Schönheit" über die kaputten Produkte geschrieben: "Der Schönheitskult bietet Frauen an, ihnen eine Imitation jenes Strahlens zu verkaufen, das sie schon besitzen - jener elementaren 'Grazie', von der wir nicht sagen dürfen, dass wir sie wahrnehmen." Judith Holofernes: "Je weniger man das, was man braucht, von außen nimmt, desto mehr findet man es innen, weil es nicht zugeschüttet wird." Shoppingsüchtige of the world, unite and take over. Wie jeder weiß, konsumieren zufriedene Menschen weniger. Deshalb sollen auch alle immer unzufrieden sein. Z. B mit ihrem Partner oder ihrem Aussehen. Findet ihr das spießig, so zu argumentieren? Stiftung Warentest? Linksalternativer Hippiemüll? Nun ja. Das ist ja das Tolle an Wir Sind Helden: dass an ihrem Beispiel etwas so Ausgelaugtes wie Konsumkritik wieder Spaß macht - denn sie bringen es mit einer speziellen Mischung aus 80er-Jahre-Künstlichkeit und innerer Wärme. Oder es ist dieses blitzartig alles aufhellende Lächeln der Sängerin, die, kaum wurde der Clip ausgestrahlt und Judith bei Harald Schmidt in der Sendung gesichtet, schnell den Ruf hatte, "die schönste Frau der Welt" zu sein. "Sie ist einfach wunderschön." Hoppla, da war sich Indie-Deutschland aber mal einig. Und noch etwas vergaß kaum einer der begeisterten Hörer, z. B. im Intro-Forum, zu erwähnen: Wir Sind Helden seien besser als die ganze andere Neo-NDW-Scheiße und die schwachsinnigen Sängerinnen von Mia., Paula, 2Raumwohung. Auch der Vergleich mit Rosenstolz sei eine Beleidigung! Wir wollen mal nicht den großen Diskurs über die armen Helden drüber schütten, denn es gilt sie ja gerade erst zu entdecken, aber ein paar Bemerkungen zur Rezeption von Wir Sind Helden müssen schon erlaubt sein, bevor es dann weitergeht im Glückstext. Geschmackssachen Also: Warum müssen schon wieder female Role-Models gegeneinander ausgespielt werden? Kann die Strähnchen-Schrillness von Mieze nicht auf ihre Weise gut sein und Judith Holofernes' natürliche Wunderhübschheit auf eine andere? Ich empfinde es als Fortschritt, dass dieses Neo-NDW-Fach so viel Raum für expressive Frauen geschaffen hat. Innerhalb des Rockmusik- oder HipHop-Faches scheint dafür jedenfalls weniger Platz zu sein. Auch wenn Wir Sind Helden mühelos unter zeitlos gutem Songwriter-Rock einzusortieren wären. Aber die Rock-Crowd will halt unter sich sein. Man sieht daran, wie scheinprogressiv die Girl-Power der 90er-Jahre war - wenn nur noch die 80er davon übrig geblieben sind. Außerdem finde ich es blöd, die Frage, was besser ist, schon wieder am Aussehen festzumachen. Aussehen ist schließlich Geschmackssache. Habituell. Das müssten eigentlich auch Gymnasiasten wissen. Aber wahrscheinlich wissen sie es nur zu gut und sind eingeschüchtert, seit sie festgestellt haben, dass die obere Mittelschicht doch nicht in allen Fragen und Teilen die Welt regiert. Was? Wie bitte? Egal. Es geht ja nur um das Glück. Das ungetrübte. Hin und wieder muss man die dichten Wolken vertreiben, um wieder bei sich zu sein. Deshalb, räusper, finde ich Wir Sind Helden dann irgendwie doch besser als den Schlager-Pop von Paula oder 2Raumwohnung. Hm. Persönliche Vorlieben. Da kann ich noch so viel für die Vielfalt sein. Ich glaube, dass "Wirklich Sein" anders geht! So "glücklich" und "wirklich" kann man gar nicht sein, als dass einem nicht doch noch mal der eine oder andere kleine gesellschaftliche Widerspruch über den Weg laufen würde. "Die Reklamation" fängt diesbezüglich schon mal gut an, mit einem schnellen, nervösen Song gegen Regeln und Bevormundung: "Was ist ein Glück schon wert, das nur den Pharmazeuten ehrt. Ist jeder, der sich nie beschwert, am Ende wirklich unbeschwert?" fragtsingt Judith mit ihrer angenehm herausfordernden Stimme, die aber trotzdem noch etwas Schüchternes hat. Aber wollen wir die Kirche mal im Dorf lassen und die Band als Ganzes darstellen. Wir Sind Helden bestehen zusätzlich noch aus drei tollen Jungs: Jean-Michel Tourette (Synthie), Pola Roy (Schlagzeug) und Mark Tavassol (Bass). Sie haben sich bei einem Pop-Sommerkurs (!) in Hamburg kennen gelernt und kommen eigentlich aus den verschiedensten Gegenden. Nur zwei der Helden wohnen in Berlin. Pola: Wenn ich uns von außen wahrnehmen würde, würde ich schon eine Berliner Sängerin hören. Der Rest ist ja dem Hörer scheißegal. Der erste Höreindruck ist ja nicht: Der Schlagzeuger klingt aber nach Süddeutschland. Berliner Sängerin ist auch das, was gerade passiert. Jean: Ich find z. B. auch Mia. klasse. Judith: Lieber mit so was verglichen werden als mit etwas Doofem. Mia. ist ja schon eine ähnliche Musikrichtung - auch wenn wir auf dem Album nicht nur Synthie-Punk zitieren, sondern alles, was uns interessiert. Man kann auch Blues-Sachen finden, kleine Trompeten, Früh-90er-Indie-Rock usw. Mark: Ein Lied kann keine Band darstellen. Die 80er sind nur eine weitere Seite von uns. Habt ihr auch den Eindruck, dass sich der Leistungsdruck auf den Einzelnen in den letzten Jahren verschlimmert hat? Ist das ein Grund, warum eure zweite Single "Müssen Nur Wollen" wieder ein Hit ist? Judith: Bestimmt. Seit ein paar Jahren werden relativ viele Leute in unserem Alter psychisch krank. Jeder geht mal eine Weile lang zugrunde, weil er denkt: Komisch, ich kriege suggeriert, ich könnte gleichzeitig irgendwie total super aussehen, 24 Stunden am Tag in einem ganz tollen Job arbeiten, die restlichen zwölf Stunden mit meinen großartigen Freunden bei wahnsinnigen Freizeitbeschäftigungen verbringen und in der Nacht ganz viel Sex mit 15 verschiedenen Männern haben - einer davon mein geliebter Ehemann, weil ich natürlich auch treu bin. Mark: Mir ist aufgefallen, dass die Hamburger Uni allmählich einem Catwalk gleicht. Meine Mutter hat spät studiert, deswegen habe ich sie schon als 14-Jähriger an die Uni begleitet. Damals hatte ich ein ganz anderes Bild von Universität: Ich dachte, alle wären da so alternativ und selbstverständlich kritisch. Und dann sehe ich das, was die jungen Intellektuellen sein sollen, mit ihren fast vergewaltigten modischen Revoluzzer-Accessoires. Diese ganzen Dinge, die man trägt und die in Wirklichkeit genau das Gegenteil darstellen. Revolution - auch so eins von den kaputten Produkten, wo man danach lieber wieder sein Leben zurück will. Judith: Wenn Revolution sozusagen Jeans verkauft, ist das total entmutigend für die Leute, die den Impuls in sich spüren, tatsächlich etwas anderes zu machen. Dieser Zeichensprache mit Rockmusik und allem ist so die Kraft genommen, dass ich es ganz wichtig finde, dass man sich davon nicht entmutigen lässt und es trotzdem tut. Hat euer Erfolg damit zu tun, dass ihr euch darüber hinweggesetzt und eine eigene Sprache gefunden habt? Judith: Vielleicht. Das wäre ein großes Kompliment. Mir gibt es auf jeden Fall ein großes Gefühl von Freiheit: dass man etwas independent machen kann und es dann überall läuft. Denn wenn man einmal gelernt hat, dass es auch anders funktioniert, dann macht das außerordentlich frei. Für die Zukunft. Pola: Man kann sich natürlich auch überschätzen. Wir sind trotzdem vorsichtig. Nachts um halb drei auf MTV Nach dem Interview habe ich sie sehr bald auf MTV wiedergesehen. Nachts um halb drei, nach Avril Lavigne und vor Norah Jones. Auch ein passendes Fach, diese gut zusammengestellte Video-Strecke: Lauter hübsche junge Mädchen mit langen Haaren, die selber Gitarre spielen können und kritisch und natürlich sind - Kleidergröße 34 natürlich vorausgesetzt. Apropos: Judith Holofernes hat sich nicht mal davor gescheut, im Spex-Interview über Bulimie zu reden. All diese Gedanken, ob was richtig oder was falsch ist, stören natürlich das Glück. Man will ja einfach nur in der stillen Schönheit des Moments leben. Und hier setzt das Privileg des Songwriters ein: Ein Songwriter muss die Rockmusik nicht neu erfinden. Ein Songwriter erfindet seine eigenen Gesten, seine eigenen Worte, jeder kleine Tonfall-Wechsel ist eine wichtige ästhetische Aussage. Ein Songwriter muss es mit der Wut nicht übertreiben. Aber es ist schön, wenn er ab und zu mal über den Rand des Geschmackvollen hinausgeht, und Judith Holofernes tut es mit schlafwandlerischer Sicherheit für das richtige Maß der Dinge: "Unerkannt flieg ich ans Ende der Stadt, ans Ende der Welt und über den Rand." Denn sie kann es mit ihren Vorbildern Rio Reiser und Elvis Costello wirklich aufnehmen. "Die Reklamation" ist keinen Deut schlechter als Rio Reisers wunderbares Solo-Album "Rio 1" aus dem Jahr 86. Auch bei ihr gibt es neben all den schnellen, gehetzten Anti-Jetzt-Hymnen noch die wunderbaren Liebesballaden - allen voran der "Gospel Über Das Verlernen Von Wundern": "Schon nach wenigen Jahren, nur noch Narben, da wo Wunder waren." Abschließend betrachtet: Vielleicht ist das NDW-Revival jetzt bei seinen Roots angelangt. "Die Reklamation" ist "Monarchie Und Alltag" für die Mediengeneration. Judith Holofernes: "Man muss die Sachen, die Leute in den 70ern gemacht haben, unbedingt noch mal machen. Schon allein, um sein eigenes Herz zu retten." Ich wäre ja eher für die 60er, aber nun gut. Vielleicht liegt das Glück tatsächlich in den 70ern begraben. Autor: Kerstin Grether